Ein Tagebuch ist das nicht. Zwar kommen die Kapiteleinteilungen wie Diariumseinträge daher und sind mit Datum und Wochentag überschrieben, aber das ist eine mühsam aufrechterhaltene Konstruktion. Auch ein Roman (wie der Einband verheißt) ist Peter Ackroyds Buch nicht. Vielmehr erzählt hier der Held, Oscar Wilde, sein Leben in der Rückschau vorgeblich selbst von Anfang bis Ende. Neues über den Dichter erfährt man bei der Lektüre nicht. Auch wer sich vielleicht auf pikante Details freut, wird enttäuscht werden. Der tägliche Zeitungsklatsch von heute wird deutlicher, wenn es um die Bennennung erotischer Vorgänge geht. Auch über sein Werk, seine Salonstücke, seine Märchen, die bis heute gelesen werden, schweigt der von Ackroyd zum Sprechen gebrachte Autor, er bleibt ganz auf den Verlauf des Lebens von Wilde konzentriert. Ackroyd hat ein erstaunliches Stück Rollenprosa geschrieben. Der Leser soll glauben, den großen, dekadenten Oscar Wilde höchstselbst reden zu hören. Und die Illusion gelingt: Man lauscht mit Vergnügen den wunderbaren Paradoxien und exzentrischen Formulierungen (von Melanie Walz großartig ins Deutsche übertragen). Der Skandal-Schwule der viktorianischen Epoche berichtet mit Geisterstimme von der eigenen Leidensgeschichte. Sie brachte zunächst die Ächtung, führte ihn dann ins Gefängnis und schließlich ins Exil. Nicht ins Vergessen. In Pariser Restaurants wird er noch von englischen Touristen angegafft und -- angespuckt. --Michael Winteroll Quelle:
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