Der Tango, "das ist ein trauriger Gedanke, den man tanzen kann", so meinte einmal Enrique Santos Discépolo, neben dem Sänger Carlos Gardel wohl der berühmteste Tango-Poet Argentiniens. Entstanden ist der südamerikanische Tanz im 19. Jahrhundert in den Kaschemmen und Bordellen von La Boca, dem Hafenviertel von Buenos Aires. Ähnlich dem Jazz als eine Vermischung unterschiedlichster kultureller Einflüsse und Traditionen, war auch der Tango Ausdruck des Lebensgefühls der Armen, der Minderheiten und der Unterdrückten, der sich im Laufe seiner Geschichte zu einer komplexen Kunstform entwickelte. Was den meisten Europäern als mysteriöse Mischung aus Erotik und Melancholie erscheint, ist tatsächlich eine Art Sprache, ein intimer Dialog zwischen Mann und Frau, in deren Umarmung, el abrazo, eine Geschichte erzählt wird -- mit meist tragischem Inhalt. Guiletta Battin ist neunzehn, frische Hospitantin am Ballett der Deutschen Staatsoper und kurz davor, ihr erstes Engagement zu erhalten. In einem kleinen Berliner Hinterhoftheater trifft sie auf Damián Alsina, einem jungen Argentinier, der mit seiner Tangogruppe dort gerade sein neues Stück einstudiert. Guilietta ist von der mysteriösen Energie des Tanzes ebenso fasziniert wie von Damián selbst und gegen ihren eigenen Willen verliebt sie sich schon bald in den geheimnisvollen Künstler. Ihre Liebe wird von Damián leidenschaftlich erwidert, doch der Traum der beiden Tänzer währt nur kurz. Nachdem Damián die Premiere seines eigenen Stücks vor ausverkauftem Haus sabotiert und das ganze Ensemble im Chaos zurücklässt, verschwindet er nach einer gewalttätigen Auseinandersetzung mit Giulettas Vater spurlos nach Argentinien. Als die verzweifelte Giuletta ihm dorthin folgt, um ihren Geliebten in den Milongas und Tangobars von Buenos Aires zu suchen, stößt sie auf ein undurchdringliches Netz von Intrigen und Geheimnissen, die sie selbst bald in große Gefahr bringen. Wolfram Fleischhauers Roman beginnt wie eine melodramatische Liebesgeschichte, um schon bald zu einer spannenden Detektivgeschichte zu werden, die ihre Leser mühelos in ihren Bann zieht. Das liegt jedoch weniger an den Figuren, die mitunter ein wenig eindimensional wirken, sondern vielmehr an Fleischhauers beindruckendem Geschick, fast schon philosophische Betrachtungen zum Tanz -- vom klassischen Ballett bis zum Tango und seiner Kultur -- zu verbinden mit einer Auseinandersetzung über die langen Schatten der argentinischen und deutschen Geschichte -- und die unselige Verstrickung zwischen beiden bis in die jüngste Vergangenheit. Wie schon in Die Purpurlinie und Die Frau mit den Regenhänden erweist sich Fleischhauer als ebenso intelligenter wie spannender Erzähler, der nicht nur durch den Reichtum an Fakten, sondern vor allem durch das mitreißende Engagement für seine Sujets überzeugen kann. Drei Minuten mit der Wirklichkeit zeigt so nicht nur die Begeisterung, die der Tango auszulösen vermag, sondern vor allem auch den Respekt vor dem Geheimnis seiner Schönheit, seiner Geschichten, seiner Trauer. --Peter Schneck Quelle:
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