Nach klassischer christlicher Auffassung ist der Anspruch des Alten Testaments und gerade seines gesetzlichen Teils der Tora, der ersten fünf Bücher Mose, durch das Heilsgeschehen in Christus aufgehoben und von vorläufiger Bedeutung. Wenn ein Theologe daher von einer fundamentalen Bedeutung der Tora für die christliche Ethik spricht, sollte das nicht nur seinesgleichen aufhören lassen, sondern auch den aufmerksamen Christen und Beobachter christlicher Verhältnisse. Lassen sich denn die Beziehungen zwischen Christlichem und Jüdischem auch ganz anders als bisher betrachten und verstehen? Natürlich gibt es die Annäherung im christlich-jüdischen Dialog seit den 1960er-Jahren. Aber dass die Konsequenzen wirklich dann so weit ausgegangen werden (können), überrascht dann doch. Frank Crüsemann, Alttestamentler der Kirchlichen Hochschule Bethel, hat nicht nur ein umfassendes wissenschaftliches Werk über Die Tora. Theologie und Sozialgeschichte des alttestamentlichen Gesetzes vorgelegt, sondern erörterte in zahlreichen Vorträgen und Aufsätzen die Bedeutung der biblischen Auffassung vom Menschen und der Sozialgesetze der Tora in der Auseinandersetzung um gesellschaftspolitische Themen wie den Umgang mit Gewalt, Frauenrechten, Lärm, Krieg, Menschenrechten, Asyl- und Strafrecht, Arbeit, Globalisierung und Bildung. Seine Deutung bietet Einsichten, Denkanstöße und heilsame Korrekturen im christlichen Selbstverständnis, in der Deutung des Dekalogs und Sündenfalls, im Verständnis der paulinischen Theologie zu zentralen Punkten der Christologie und der lutherischen Rechtfertigungslehre. Insgesamt steht das Verständnis der Gerechtigkeit Gottes, die sich in Tora und Evangelium auf die gleiche Weise offenbare, immer wieder im Zentrum der Aufmerksamkeit. Diese Revision und Kritik der traditionellen christlichen Stellung zur Tora rückt einiges zurecht und stärkt darin auch die Relevanz christlicher Präsenz und Position im Angesicht heutiger gesellschaftlicher Debatten. 20 Vorträge und Bibelarbeiten aus den Jahren 1996 bis 2002 werden im vorliegenden Band einem breiteren Publikum vorgestellt. Die Texte sind verständlich geschrieben, durch Beispiele und Bibelzitate aufgelockert, oft auch recht kurzweilig zu lesen. Dass die Textfassung gelegentlich mit lässlichen Schreib- und Satzfehlern behaftet ist, trübt ein wenig das Vergnügen der Lektüre. Nicht nur theologisch Interessierten, sondern auch allgemein gesellschaftspolitisch Aufgeschlossenen ist dieses Buch nur zu empfehlen. --Adalbert J. Osterried Quelle:
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