Neben fachlicher Kompetenz und juristischem Verständnis muss vom psychiatrischen Gutachter vor allem eine für medizinische Laien verständliche Ausdrucksweise gefordert werden. Solche teils widersprüchlichen Kriterien überfordern wohl auch den vielseitigsten Facharzt, sofern er nicht auf reale Beispiele zurückgreifen kann. Deshalb ist das "Aktenwälzen" eine charakteristische Tätigkeit angehender Gutachter. Es sind vor allem zwei Wege der Materialbeschaffung üblich (und mitunter bedenklich): Die Auswertung vorhandener Klinikunterlagen durch den angestellten Arzt und der Gebrauch freigegebener Fallsammlungen oder Fachbücher wie des vorliegenden. Der Titel führt etwas in die Irre, denn die Strafsachen ("forensische Fälle") machen nur exakt die Hälfte, nämlich elf von 22 Fallbeispielen, aus. Die restlichen Gutachten wurden im Rahmen von Zivilverfahren erstellt, betreffen Betreuungssachen, das Arbeitsrecht etc. Die Auswahl der Beispiele verblüfft sofort durch beinahe unglaubliche Praxisnähe. Selbstverständlich kann nicht jede Sachlage mit einem Fallbeispiel vertreten sein. Überraschend ist allerdings, dass kein Unfall durch Trunkenheit am Steuer bei Alkohol- beziehungsweise Drogenmissbrauch vorkommt; dies hätte man angesichts des Buchkonzeptes erwartet. Es ist jedoch für den Leser stets möglich, für eine konkrete Fragestellung die relevanten (Teil-)Aspekte und gutachterlichen Wertungen aus den vorhandenen Kasuistiken abzuleiten. Von den Stärken des Bandes nun zu einer merkwürdigen Schwäche: Ein Register fehlt, von einem wünschenswerten Glossar ganz zu schweigen. Gerade bei der Suche nach Diagnosen, Paragrafen oder Tatbeständen wird es schmerzlich vermisst. Da hilft auch die auf das Lehrbuch Forensische Psychiatrie von Prof. Nedopil verweisende Randgestaltung und die selbsterklärende Gliederung wenig. Dem Leser bleibt nur das Durcharbeiten des gesamten Buches und das Anlegen von Notizen zu einzelnen Seiten. Da diese Vorgehensweise wegen des Lerneffekts ohnehin empfehlenswert ist, könnte man den Verfassern glatt Absicht unterstellen. Insgesamt hinterlässt das Werk einen hervorragenden Eindruck. Den im Rahmen ihrer Facharztausbildung voll in der Klinik eingespannten Medizinern sei dieses Buch am dringendsten empfohlen. Denn oft prägen Chefärzte oder Traditionen einzelner Häuser sämtliche dort erstellte Gutachten, was möglicherweise zu einseitigen Ergebnissen und Kettenfehlern führt. Es liegt an dem ausgebildeten Anwender, sich zu einem verantwortungsbewussten Gutachter zu entwickeln, der kompetente und, im Rahmen des Möglichen, individuelle Gutachten erstellt. --Philipp-R. Schulz Quelle:
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