Nachdem Thomas Lehr bereits für sein Debüt Zweiwasser oder Die Bibliothek der Gnade den Rauriser Literaturpreis (Beste deutschsprachige Prosa-Erstveröffentlichung) erhielt und auch seine beiden anderen Romane, Nabokovs Katze und Die Erhörung, lobende Kritiken ernteten, wendet er sich nun mit Frühling einem anderen Genre zu: der Novelle. Ein wichtiges (inhaltliches) Charakteristikum der Gattung Novelle ist nach Goethe die Tatsache, dass sie ein "unerhörtes Ereignis" schildere; auf einer formalen Ebene besticht sie allem voran durch eine stilisierte, strenge Form. Wie geht Lehr nun in seiner Novelle eines -- so viel sei vorweg genommen -- deutschen Traumas mit dieser klassischen Tradition um? Das Buch beginnt mit einem doppelten Suizid: Christian und seine Geliebte Gucia erschießen sich -- doch bis der Tod des Protagonisten eintreten wird, dauert es noch 39 Sekunden. Diese 39 Sekunden finden ihren Niederschlag in 39 Kapiteln, rückwärts gezählt, und lesen sich zunächst wie ein wild assoziativer Strom aus Erinnerungen an zentrale Lebensereignisse, die in diesem Zwischenreich von Leben und Tod wie ein kurzer Film nochmals vor seine Augen treten. Die Stakkato-Worte sind trunken, die Sätze zerhackt und auch die Interpunktion bietet dem Leser keinen Halt, folgt sie schließlich keinen (erkennbaren, vielleicht rhythmischen?) Regeln. An zentraler Stelle dieses atemlosen, den Leser völlig in seinen Sog ziehenden Monologs, plötzlich ein "unerhörtes Ereignis", ein geradezu traumatisches Erlebnis, um das alles zu kreisen scheint: Es ist ein Sommertag im elterlichen Garten. Christian ist mit seinem Bruder Robert vom Angeln zurückgekehrt, als sie einen (vermeintlich irren) Exhibitionisten vor der eigenen Tür sehen. Die Polizei wird gerufen und sorgt für dessen Entfernung. Robert jedoch weiß, dass der Vater Arzt im Konzentrationslager von Dachau war und gerade von einem seiner Opfer besucht wurde -- ein Wissen, das Robert drei Jahre später in den Selbstmord treiben sollte, in einen Suizid, auf den Christian noch Jahrzehnte wartete, ihn nun vor den Augen des Lesers vollzieht und endlich -- durch permanente Verdrängung -- das Ausmaß seiner Lebenslüge erkennen kann. Der Leser selbst kann sich dieser Sterbeszene nicht entziehen: All die Schilderungen eines von Verdrängungen und Verletzungen gezeichneten Lebens sind in eine Sprache transferiert, die konsequent die Syntax der Sätze zersplittert, ja mit all ihren Normen zu brechen scheint: Die Bilder driften zusehends ins Apokalyptische ab und offenbaren eine deutsche Tragödie in einer deutschen Novelle von großem (sprach-)experimentellen Ausmaß. --Kristina Nenninger Quelle:
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