"Ihr Mann ist tot und lässt Sie grüssen", sagt Goethes Mephisto zu Marthe Schwerdtlein. Der Herr lügt. Er weiß nichts über den Zustand des Herrn Schwerdtlein und hat auch keine Grüße von ihm auszurichten. Ungeachtet Mephistos Wissensstand, so scheint es, ist es der Satz selbst, der hier lügt. Aber wenn es der Satz kann, können auch einzelne Wörter lügen, kann überhaupt "eine Lüge der Wortbedeutung als solcher anhaften?" Fragen, die sich der Romanist Harald Weinrich vor 35 Jahren gestellt hat. Seine Linguistik der Lüge ist der Preisträgertext eines Essaywettbewerbs der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung (die heute immer noch die Unwörter des Jahres kürt) zu der Frage, ob die Sprache die Gedanken verbergen könne. Seine Antwort ist ein leidenschaftliches Plädoyer gegen die pessimistische Tradition der Sprachkritik, die jene Fragestellung zitiert. Weinrich verteidigt die "Wahrheit der Sprache", die Unschuld einzelner Worte. Er bestreitet nicht, dass es Wörter gibt, die missbraucht wurden und seither verlogen sind. "Lebensraum", "Endlösung" und "Weltanschauung" sind seine Beispiele. Dass aber die Lügenhaftigkeit der Worte eng mit ihrem kulturellen und linguistischen Kontext in Zusammenhang steht, zeigt er an den beiden Wörtchen "Blut" und "Boden". Für sich genommen unbedenklich, wird aus ihnen erst durch die Konjunktion ein weiteres Nazi-Schlagwort. Weinrichs Linguistik der Lüge ist zum einen das Dokument des strukturalistischen Zeitgeistes, ein "verstecktes Manifest der Textlinguistik"(wie er im Nachwort schreibt), die der klassischen Orientierung der Linguistik am Wort und Satz die größere Dimension des Textes hinzufügt. Zugleich blickt Weinrich weit über den Zustand seiner Disziplin hinaus. Dieser Essay hat seinen Platz eher in der Kulturwissenschaft als in der Linguistik, auf jeden Fall aber unter den Kleinodien der jüngsten deutschen Geisteswissenschaft. --Nikolaus Stemmer Quelle:
|