Nein, sehr einladend wirkt das alles nicht. Ermordete Journalisten, blockierte Reformen, marode Atomkraftwerke und immer wieder das Gerücht, der Staat werde in zwei Teile zerbrechen -- aus deutscher Perspektive ist die Ukraine nicht nur ziemlich weit weg. Die offensichtlich großen Probleme, die das Land beim Übergang zu Demokratie und Marktwirtschaft hat, tun ein Übriges, um das allgemeine Interesse deutlich zu dämpfen: Zu chaotisch, zu undurchschaubar, zu kompliziert. Dabei grenzt die Ukraine mit Polen seit 1999 nicht nur unmittelbar an einen NATO-Staat. In absehbarer Zukunft dürfte die Ukraine auch zum direkten Nachbarn der EU werden. Beides sollte Grund genug sein, sich näher mit der Ukraine zu beschäftigen. Andreas Kappelers Kleine Geschichte der Ukraine bietet hierzu einen ebenso spannenden wie nützlichen Einstieg. Wie so oft im östlichen Europa ist auch die aktuelle Situation der Ukraine ohne die historischen Hintergründe nicht zu begreifen: Kiews Verhältnis zu Russland ist nicht nur geprägt von 70 Jahren Sowjetunion. Der Erbanspruch, den beide Staaten gleichermaßen auf das mittelalterliche Reich der Kiever Rus erheben, spielt hierbei ebenso eine wichtige Rolle wie die Zerstörung des ukrainischen Kosakenstaats des 17.Jahrhunderts. Die innere Zerrissenheit der Ukraine resultiert nicht nur aus der enormen geographischen Ausdehnung zwischen West und Ost, sondern liegt vor allem in der sukzessiven, von Ost nach West voranschreitenden, Eingliederung ins russische Reich begründet -- wie auch eine Zeittafel und mehrere Karten veranschaulichen. Der große Vorzug dieses Buches besteht darin, dass Kappeler sich nicht allein auf die Darstellung der Ereignisgeschichte beschränkt. Neben Kapiteln zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte räumt der Autor auch den zahlreichen Minderheiten (Polen, Russen, Juden, Deutsche) gebührenden Raum ein. Besonders nützlich für das Verständnis der aktuellen Probleme der Ukraine ist jedoch, dass Kappeler immer auch die Bedeutung des historischen Selbstbildes und die Instrumentalisierung der Geschichte für den politischen Diskurs im Blick behält. Die Frage, ob die Ukraine unabhängig und auf Reformkurs bleiben, oder dem weißrussischen Weg folgen wird, hängt nicht zuletzt vom Ausgang dieses historischen Selbstfindungsprozesses ab. Und deshalb sollte das "ukrainische Chaos" nicht nur Historikern und Politologen ein bisschen Interesse wert sein. --Anneke Hudalla Quelle:
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