"Jeder bekommt seine Kindheit über den Kopf gestülpt wie einen Eimer. Später erst zeigt sich, was darin war. Aber ein ganzes Leben lang rinnt das an uns herunter, da mag einer die Kleider oder auch Kostüme wechseln wie er will." Conrad Castiletz wächst ausgesprochen behütet heran, in einem zutiefst bürgerlichen Elternhaus. Da gibt es nicht viel Platz zur Entfaltung individueller Charakterzüge, sein Weg ist ihm vorbestimmt: Von der Schule über Ausbildung und Volontariat bei einem mit dem Vater befreundeten Fabrikbesitzer bis hin zur Hochzeit mit einer Tochter aus besseren Kreisen. Immer wieder verspürt Conrad einen gewissen Widerwillen gegen dieses wie automatisch ablaufende Leben, doch ihm fehlt die Kraft, sich dagegen ernsthaft aufzulehnen. Einzig seine allem Anschein nach durch einen Raubmord zu Tode gekommene Schwägerin weiß ihn -- von jenseits des Grabes sozusagen -- aus seiner Apathie zu reißen. Mit für ihn ungewohnter Energie macht er sich daran, den nach neun Jahren noch immer nicht aufgeklärten Fall neu aufzurollen. Allerdings hat er nicht damit gerechnet, dass die Suche nach dem Täter gleichzeitig auch zu einer Konfrontation mit seinem eigenen Selbstbild wird. Ein Mord den jeder begeht, 1938 erstmals erschienen, gehört zu den frühen Romanen des österreichischen Erzählers Heimito von Doderer. Gleichermaßen Entwicklungsroman und Sittenbild der Zwischenkriegszeit zählt das Buch zweifellos zu den Meisterwerken des deutschsprachigen Kriminalromans. Doderers Kunst besteht darin, den eigentlichen Fall erst Stück für Stück herauszuarbeiten, bis dessen Aufklärung -- durch den Leser oder, am Ende des Romans, durch Conrad -- ein völlig neues Licht auf das bisher Gelesene wirft. Doderers sprachmächtige Prosa und seine psychologisch genaue Beobachtungsgabe machen Ein Mord, den jeder begeht von der ersten bis zur letzten Seite zu einem intellektuellen wie sinnlichen Lesevergnügen. --Hannes Riffel Quelle:
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