Obwohl Isaac Beshevis Singer 1935 aus Polen in die Vereinigten Staaten auswanderte, blieb die eingegrenzte Welt der polnischen Juden im Kern seiner Fantasie. Angefangen mit seinem ersten Hauptwerk, Satan in Goray (1935), verwendete er das Leben im Schtetl als Rohstoff und verwandelte seine traditionelle Lebensweise, religiöses Brauchtum, Aberglauben und Sexualpraktiken in großartige Kunstwerke. Hin und wieder nahm sich Singer jedoch die Juden der Neuen Welt vor, wie er selbst einer war, und dokumentierte deren rasche beziehungsweise widerwillige Eingliederung in das amerikanische Alltagsleben. Eins dieser Bücher ist Schatten über dem Hudson. Dieser umfangreiche Roman wurde ursprünglich 1957 in der jiddischsprachigen Zeitung Jewish Daily Forward in Fortsetzungen veröffentlicht und liegt nun in \334bersetzung vor -- und Singer-Fans sollten sehr dankbar sein. Im Mittelpunkt der Geschichte steht Boris Makaver, ein Baumeister, der sich gleichermaßen dem Stahlträger und dem Talmud widmete, und Anna, dessen oft verheiratete Tochter. Ausgehend von diesem Duo gibt es jedoch ein kleines Universum von Flüchtlingen, die alle mit der gewohnten Ausdruckskraft Singers aufgetischt werden. (Hier ist ein komischer Schnappschuss eines Gauners namens Hertz Grein: "Seine Nase hatte einen typisch jüdischen Haken, überlegte es sich aber dann doch wieder anders und richtete sich wieder gerade. Seine Lippen waren schmal, und seine blauen Augen verrieten eine seltsame Mischung aus Schüchternheit, Aufgewecktheit und etwas anderem, was schwer zu definieren war. Margolin sagte immer, er sähe aus wie ein Jeschiwa-Junge aus Skandinavien.") Während sich die Nebenhandlungen zu einem unordentlichen Haufen auftürmen, verrät der Roman manchmal sein ursprüngliches Fortsetzungsformat. Trotzdem -- Singer lässt seine große Besetzung zeigen, was sie draufhat, und das endlose Reden -- denn dies sind Figuren, die mittels schneller, streitlustiger, jiddisch-gefärbter Unterhaltung wahrlich zum Leben erweckt werden -- gibt dem Autor die Möglichkeit, über Schicksal, Identität und Freiheit nachzudenken, ohne das Tempo der Geschichte auch nur eine Spur zu verlangsamen. Wie Singer es des Öfteren ausdrückte: "Natürlich glaube ich an den freien Willen. Was bleibt uns anderes übrig?" Quelle:
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