Innerhalb weniger Generationen gelang den deutschen Juden ein beispielloser Aufstieg von der mittelalterlichen Ghettoexistenz zur geistigen und wirtschaftlichen Elite Deutschlands. Der Holocaust markiert das katastrophale Ende dieser Erfolgsstory. Trotz der in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erlangten Gleichberechtigung, ausgezeichneter Leistungen und dem damit verbundenen Aufstieg in hohe und einflußreiche Positionen, gelang es den Juden in Deutschland niemals, die Kluft zu überwinden, die sie von Nichtjuden trennte. In Die unsichtbare Mauer. Die dreihundertjährige Geschichte einer deutsch-jüdischen Familie berichtet der Amerikaner Michael Blumenthal von den Wechselfällen christlich-jüdischen Zusammenlebens in Deutschland. Anhand von sechs Lebensgeschichten, die allesamt dem Stammbaum seiner Familie angehören, zeichnet der Autor -- einst Präsidentenberater, US-Finanzminister und seit 1997 Direktor des jüdischen Museums in Berlin -- ein eindrucksvolles Panorama deutsch-jüdischer Existenz von 1671 bis 1945. Angefangen beim armen Hausierer Jost Liebmann, der es bis zum Hofjuwelier des brandenburgischen Adels brachte, aber vollständig vom Schutz des Kurfürsten abhängig war, über die berühmte Schriftstellerin Rahel Varnhagen, die vergeblich ihre jüdischen Wurzeln verleugnete, um Einlaß in die christliche Welt zu erhalten und Giacomo Meyerbeer, im 19. Jahrhundert gefeierter Opernkomponist und Zielscheibe der antisemitischen Haßtiraden Richard Wagners, bis zum gutbürgerlichen Ewald Blumenthal, dem Vater des Autors. Als Ewald, nur knapp dem Tod in Buchenwald entkommen, 1939 mit seiner Familie aus Deutschland floh, war er ebenso besitz- und rechtlos wie der jüdische Hausierer drei Jahrhunderte zuvor. Viele Juden mochten sich darüber hinwegtäuschen, doch eine wahre deutsch-jüdische Symbiose -- das belegen die einzelnen Geschichten -- hat es nie gegeben. Gerade weil es die Juden in Deutschland weiter gebracht hatten als irgendwo anders, konnten sie immer wieder zur Zielscheibe für Neid und Ressentiments werden. Natürlich beschäftigt Michael Blumenthal auch die Frage, wie es dazu kam, "daß der Judenhaß ausgerechnet in Deutschland -- einem Land, das auf seine hohe Kultur so stolz war [...] -- eine so katastrophale, mörderische Form annahm" (vgl. S. 29). Blumenthal bestreitet die vieldiskutierte These seines Landsmannes Daniel Goldhagen (Hitlers willige Vollstrecker), daß der deutsche Antisemitismus, anders als in anderen Ländern, bereits einige Zeit vor Hitler besonders bösartig gewesen sei und auf die Vernichtung der Juden abgezielt habe. Einzigartig gewesen sei weniger der deutsche Antisemitismus als das politische und soziale Umfeld, in dem er gedeihen konnte. Blumenthal nennt hier beispielsweise die extremen sozialen Spannungen, die durch die verspätet einsetzende Industrialisierung hervorgerufen wurden, fehlende demokratische Strukturen und die vielfältigen Umbrüche und Krisen, die Deutschland heftiger erschüttert hätten als andere Länder. Überraschend ist, daß der jüdischstämmige Autor die Deutschen entlastet. Daß die Mehrzahl vom Völkermord an den Juden gewußt habe, könne man nicht beweisen. Angesichts immer neuer Fakten -- man denke nur an die Verstrickung der deutschen Banken in den Holocaust oder die Verbrechen der Wehrmacht -- ist die Sicherheit, mit der er dies behauptet, erstaunlich. Vielleicht ist es aber gerade diese Überzeugung Blumenthals, die seinen Blick öffnet für eine unvoreingenommene Darstellung deutsch-jüdischer Geschichte. --Friederike Kühn Quelle:
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