"Schtetl" ist eines jener Wörter, deren Klang das Kino im Kopf in Gang setzt: Männer in schwarzen Kaftanen und mit langen Bärten, Klezmer-Musik, enge Gassen, kleine Häuser mit gewitzt-skurrilen Bewohnern. Das Bild der jüdischen Kleinstädte in Osteuropa ist ein idyllisches, auch bedingt durch den Umstand, dass die Schtetl-Welt zusammen mit dem europäischen Judentum dem Vernichtungswahn der Nazis zum Opfer fiel -- so bleibt nur der Blick zurück in eine oft verklärte Vergangenheit. Die polnisch-kanadische Publizistin Eva Hoffman zeichnet das Porträt eines Schtetls, das glücklicherweise frei ist von falscher Sentimentalität. Ihr Buch ist sachlich und zugleich anschaulich geschrieben, appelliert nicht an Gefühle, sondern will Wissen vermitteln über die faszinierende Welt der osteuropäischen Juden, ihre Lebensweise und Kultur. Hoffman schildert die Geschichte des polnischen Schtetls Bransk seit dem Mittelalter, als sich die ersten jüdischen Siedler in Polen niederließen. Die Autorin schreibt von den prägenden Strukturen des Schtetls -- den Synagogen und Rabbis als Grundstein des religiösen und sozialen Lebens, den Talmud-Schulen, den vielen Bruderschaften und Handwerkervereinen, den jüdischen Festen und Gebeten, den lebhaft-melancholischen Musikern und der verarmt-rückständigen Bevölkerung. Diese Strukturen blieben oft über Jahrhunderte unverändert und schufen einen konservativ organisierten Mikrokosmos. Zugleich machten die Wirren der Geschichte vor dem Ort nicht halt: Aufstände, Kriege, die polnischen Teilungen oder das Aufkommen moderner Wirtschafts- und Bildungsmethoden hinterließen ihre Spuren. Immer wieder geht es auch um das Verhältnis zwischen den Juden und ihren polnischen Nachbarn -- eine Beziehung, die zwischen toleranter Distanz und ressentimentgeladener Feindschaft schwankte. Als schließlich die Deutschen 1939 Polen überfielen, war es auch um Bransk geschehen: Im Ort wurde bald darauf ein Ghetto errichtet, 1942 deportierte man die jüdischen Bewohner in die Gaskammern von Treblinka. Zusammen mit den Menschen löschten die Nazis die einzigartige Schtetl-Kultur aus. Hoffmans Buch macht wenigstens die Erinnerung daran wieder lebendig. --Christoph Peerenboom Quelle:
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