Schon während seiner Schulzeit hatte der 1907 geborene Raimund Pretzel begonnen, Dramen, Gedichte und Erzählungen zu schreiben. Was sich wie ein Textanfang von Loriot liest, bezeichnet nichts weniger als die ersten literarischen Fingerübungen einer politischen Journalistenlegende. Die kaum bekannten literarischen Frühversuche Sebastian Haffners, wie er sich ab 1939 nannte, fanden in Gestalt von Feuilletons statt. Mit seinen Alltags- und Menschenbildern, die er in den Jahren 1933 bis 1938 unter anderem in der linksliberalen Vossischen Zeitung veröffentlichte, setzte er die Tradition seiner Vorgänger Tucholsky und Kästner eindrucksvoll fort. Unter der Rubrik "Die lieben Mitmenschen" porträtiert Haffner den Mitreisenden als Quälgeist, dessen einziger Lebenszweck die Störung ist. Im nächsten Feldversuch erforscht er die nicht weniger lästige Spezies der "Fensteröffner und Fensterschließer", die in den Zügen dieser Welt als nervende Variante des Ersteren auffällt. Harmlose Reisebeobachtungen mischen sich mit Großstadtporträts und menschlichen Lasterhaftigkeiten und Marotten in sämtlichen Spielarten. Dann wieder befallen Haffner fast schon seherische Visionen einer sich zunehmend verdüsternden Welt. Angesichts der Zeit, in der diese Geschichten entstanden, so wundert sich das Feuilleton der Süddeutschen Zeitung, erstaune deren unpolitischer Charakter: "Musste man sich wirklich Gedanken machen, was nun männlicher sei, Kaffee oder Tee, während Hitler seine Eroberungszüge plante?" Gegenfrage: Hätte Haffner als Regimekritiker auch nur einen Tag (journalistisch) überlebt? Gerade als Feuilletonist genoss er die Freiheit, seinen Alltagsbetrachtungen in Maßen einen politischen Stachel zu verpassen. Trotz Zensur sind die Spitzen, die immer wieder auf das Unrechtsregime zielen, kaum zu überlesen. Die 71 zumeist zweiseitigen Kurzprosaperlen, können in ihren besten Momenten und ihrer messerscharfen Menschenbeobachtung durchaus mit Hemingways Shortstories konkurrieren. Im Sommer 1938 war Schluss. Haffner emigrierte nach England. Nach dem Krieg heimgekehrt, war eine Wandlung in ihm vorgegangen. Er hatte seine Bestimmung gefunden. Es begann das Leben des scharfzüngigen politischen Kolumnisten, wir wir ihn über seinen Tod hinaus noch heute schätzen. Eine umso bereicherndere Erfahrung, einmal in die Wurzeln dieses großen Journalistenlebens geleuchtet zu haben. --Ravi Unger Quelle:
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