Bruder Grimm im Videoland. Neal Stephenson ist cool, intelligent, gebildet, und seine Romane vermitteln das Gefühl erstaunlicher Geschwindigkeit. Das alles hat er in Diamond Age in einen Topf geworfen und herausgekommen ist weitaus mehr als ein neues Buch des "Quentin Tarantino des Cyberpunk", als den ihn die New Yorker Village Voice bezeichnet hat. Nimmt man Diamond Age zum ersten Mal zur Hand, wird man unweigerlich irregeleitet: Weder der bunte Einband der Goldmann-Ausgabe noch der Klappentext lassen einen an ein filigranes Roman-Gespinst denken, das den Leser auf die gleiche Reise mitnehmen wird wie die Hauptfigur Nell. Stephenson verwebt so viele wissenschaftliche Möglichkeiten, Handlungen und Gedankenstränge miteinander, daß man als Leser anfangs gewillt ist, Diamond Age auf die Cyberpunk-Komponente zu reduzieren. Viel High-Tech, viele Cyber-Neologismen, unwirtliche Staedte und Sozialisationen -- die Welt im 22. Jahrhundert. Im Grunde handelt es sich auf der erzählerischen Ebene um eine einfache Geschichte: kleines Mädchen aus einfachen Verhältnissen bekommt ein Buch in die Hände, durch das es Bildung, Selbstsicherheit und Überlegenheit gegenueber anderen bekommt. Sie hat Erfolg aufgrund ihrer Kenntnis beider Welten: der der armen Ungebildeten, und der der reichen Gebildeten. Das in Frage stehende Buch ist gestohlen, was eine kriminalistische Komponente in die Geschichte bringt. Das kleine Mädchen muß viele Rätsel im Buch lösen, um zum Ziel zu kommen. Und alle beteiligten Personen entwickeln sich: manche sterben einfach, andere gehen weiter. Ein Videospiel. Wie man Stephenson kennt, ist Diamond Age angereichert mit einem soliden Wissen und einiger Fiktionskraft über neue Technologien -- in diesem Fall der Nanotechnologie -- und deren Bedeutung in kommenden Jahrhunderten. Und aus der Position von Einwohnern der Westküste der USA heraus ist eine gehörige Portion asiatischen Denkens und Ambientes in diesem Roman zu finden. Was daraus entsteht ist eine grandiose Reise durch das Werden eines Menschen ohne jeglichen Technikwahn. Daß sich das Umfeld verändert haben wird im übernächsten Jahrhundert, ist klar. Daß dies nicht ohne Einfluß auf die äußeren Umstaende von Lernen, Kommunizieren oder Kriegsführung bleibt, auch. Aber daß ein Mensch ein Mensch ist, das hat sich nicht verändert. Hier träumen nicht Androide von elektrischen Schafen, wie in Philip K. Dicks Vorlage zu Blade Runner, sondern Humanoide von Mitmenschen. Es ist eine Einführung in die Technikgeschichte, mit herrlichen Anklängen an Computerpioniere von Ada Lovelace über Alan Turing bis hin zu Joseph Weizenbaum. Der märchenhafte Handlungsstrang dieses Romans läßt unweigerlich an Alice im Wunderland denken, Lewis Carrolls rätselhaft verspieltes Denk-Mal. Und es ist ein Ausblick in eine Welt, die so oder auch ganz anders aussehen wird -- und dennoch die Welt ist, in der auch wir schon leben. Stephenson schafft es, dem Wort "Globalisierung" nicht nur hinterherzuschreiben, sondern Gesellschaften zu zeichnen, die aus europäischen, asiatischen und amerikanischen Elementen bestehen, sie verarbeiten und dennoch eine feste Burg in ihren ureigenen Herren finden. Die be(un)ruhigendste Entdeckung in Diamond Age ist allerdings, daß die Grimmschen Märchen, auf die Stephenson ausgiebig und offen Bezug nimmt, nichts von ihrer brutalen Wahrheit über unser Sein eingebüßt haben. Und die beste Erfahrung, daß Neal Stephenson ein suggestiver Märchenonkel von hohem Rang ist. --Marcus Polke Quelle:
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