Die Wüste singt
Raoul Schrott zwischen Physik und Metaphysik
Der von Teilen der deutschsprachigen Poesie neuerdings erhobene und seit kurzem auch in so manchem Feuilleton emphatisch gepflegte naturwissenschaftliche Ton hängt zweifellos mit dem Verlust der Deutungskompetenz zusammen, den die literarische Kultur in den neunziger Jahren erlitten hat. Das Ende des utopischen Humanismus und die damit verbundene Abdankung der Intellektuellen als sinnstiftende Kaste, die Prädominanz der Ökonomie und die Ohnmacht der Politik, der Overkill an historisch-moralischem Zuspruch und die fortschreitende Informatisierung der Lebenswelt haben zu einer Entropie der geistigen Verhältnisse geführt, die für viele nach einem Ausweg drängt. Angesichts der rasanten Fortschritte der Computer- und Nanotechnologie, der Gen- und Hirnforschung soll es nun (wieder einmal) der Positivismus der Naturwissenschaften sein, der die postmoderne Menschheit aus dem Sumpf des grossen Einerleis zieht und zu neuer Sinnkonzentration verhilft. Vergessen nur geht bei dieser neuen Fortschritts- und Technikgläubigkeit, dass die Naturwissenschaften zu Beginn des Jahrhunderts mit der Quantenphysik und der Relativitätstheorie selbst schon ihre Einheit zerstört und einem Selbstzweifel Raum gemacht haben, wie ihn üblicherweise die Kunst pflegt. Noch die strengste Wissenschaft ist Konstrukt und als solches kontingent. Sie taugt zur Praxis der Weltverbesserung, nicht aber zum Medium gläubiger Bejahung oder gar säkularen Religion. Quelle:
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