Das Geheimnis von Castrop-Rauxel. Sibylle Berg versammelt alle bösen Aufsätze in einem Band und schreibt "Gold" darauf. "Vielleicht sollte irgendwer den Schrott lesen, bevor er ins Blatt genommen wird?", schreibt die zornige Leserin aus einer nordbayrischen Kleinstadt an den Chefredakteur der Hamburger Wochenzeitung DIE ZEIT und kündigt erbost ihr Abonnement. 25 Jahre hielt sie dem Blatt nun schon die Treue, aber das ging nun doch zu weit. Lange genug ertrug sie die Beiträge dieser kapriziösen Jungautorin Sibylle Berg. Wen interessiert auch ein Artikel über das Geheimnis von Castrop-Rauxel. Diese nette, ruhige Stadt mitten im Ruhrpott, wo es jetzt überall so grün werden soll. Und mit so viel dufte Kultur in den stillgelegten Fabrikanlagen. Eine überdurchschnittlich hohe Selbstmordrate stört da die Bilanzen, stört "das Virus der Friedlichkeit, der Sauberkeit von Straßen und Geist. Das den Verstand benebelt, Zufriedenheit macht und Angst vor allem Neuen." Oder warum sollte sich ausgerechnet Robert Worcester, Professor an der renommierten London School of Economics, die Absurdität seiner Studie von Frau Berg vorführen lassen, nach der in Bangladesch, das regelmäßig von Wirbelstürmen und Überschwemmungen heimgesucht wird, die glücklichsten Menschen der Welt leben: "Also frage ich die junge Frau in der Warteschlange, ob sie glücklich ist. "Ja", sagt die Frau. Dann erzählt sie, dass sie ihr Kind gestern verloren hat, und dass sie solche Schmerzen hat. Die Frau zeigt mir ihr offenes Bein. Wie soll das heilen in dem Dreck?" Solche und andere Texte aus den letzten Jahren versammelt der Band Gold. Reiseberichte aus Wien und Weimar, Porträts von Gerhard Schröder, Haruki Murakami oder Wiglaf Droste, Szenen von dem Tag, an dem sie sterben wollte. An Sibylle Berg scheiden sich die Geister, und das ist gut so. Die Anarchie des gesunden Menschenverstandes in den Texten der bissigen Feuilletonistin ist nicht immer zu ertragen. Dass dieser jedoch im tagespolitischen Statementgeschäft noch oft genug fehlt, zeigte nicht zuletzt die Rechtsradikalismusdebatte im Sommer 2000. Das Geheimnis von Castrop-Rauxel durfte dabei leider keine Rolle spielen. Damals wäre ein solcher Text Gold wert gewesen. --Jana Hensel Quelle:
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