"Ich habe mir selbst nachspioniert in den Augenblicken meiner Leidenschaft, der Vergiftung durch die Liebe, und ich habe sie für meine Kunst studiert", bekannte August Rodin mit Hinblick auf seine erotischen Handzeichnungen, die neben seinem bildhauerischen Schaffen einen weiteren wichtigen Schwerpunkt in seinem Werk bilden. Mit nahezu 8000 Blättern stellt der zeichnerische Nachlass des 1917 verstorbenen Künstlers geradezu eine Topografie weiblicher Frauenkörper dar. Auch der Dichter Rainer Maria Rilke war fasziniert von den Arbeiten Rodins. Ein erstes persönliches Aufeinandertreffen eröffnete die wohl intensivste und produktivste Phase seiner dichterischen Arbeit. Neben einer Rodin-Monographie entstanden zahlreiche Schriften und Gedichte zu den Arbeiten des Bildhauers. In der hier vorliegenden Ausgabe vereint der Insel-Verlag eine gelungene Neuauswahl thematisch verwandter Werke der beiden Künstler und führt damit eine langjährige Tradition fort, denn bereits 1913 erschien eine Ausgabe im gleichen Hause. Eine verlegerische Großtat, wenn man bedenkt, dass noch im Jahr 1906 eine Ausstellung der Aktzeichnungen Rodins im Großherzogtum Weimar einen Skandal ausgelöst hatte! Rilkes erotische Gedichte sind von gleicher Kühnheit wie Rodins Aktzeichnungen. "Die körperliche Wollust ist ein sinnliches Erlebnis, nicht anders als das reine Schauen oder das reine Gefühl", formulierte Rilke in einem seiner Briefe und fügte hinzu, in der Wollust erfahre man ein Wissen von der Welt. Ebenso wie Rodin setzte er den sexuellen Akt mit dem künstlerischen Schaffensprozess gleich und hielt die Enttabuisierung des Geschlechtlichen für längst überfällig. Auf rund 118 Seiten wird ein intimer Rahmen für die Gedichte und Zeichnungen geschaffen. Neben dem Genuss beim Betrachten ätherischer Gestalten in erotischer Flüchtigkeit wird für den Leser, dank eines einfühlsamen Nachworts von Annette Ludwig, aus heutiger Sicht nachvollziehbar, was die beiden Künstler miteinander verband, aber auch voneinander unterschied -- bis sich ihre Lebenswege endgültig trennten: Rilke distanzierte sich zunehmend von der Haltung Rodins, die Sexualität nur auf das rein Geschlechtliche zu begrenzen. Dieses Buch verdeutlicht, dass die Lektüre Rilkes ungeachtet aller Diskrepanzen eine fruchtbare Auseinandersetzung späterer Künstlergenerationen mit Rodin überhaupt erst ermöglichte. --Andreas Schultz Quelle:
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