Jenseits der Kreml-Ikonographie ist Lenin ein Mann der Widersprüche. Privat ein kleiner, netter und äußerlich unscheinbarer Herr, der auf seine Gesundheit und Bequemlichkeit bedacht ist, der im Familienkreis glücklich und gegenüber seinen Angehörigen fürsorglich ist. Eigenschaften, die nicht so recht passen wollen zu dem charismatischen Führer Lenin, dem genialen Organisator und talentierten politischen Strategen. Und noch weniger zu dem brutalen Revolutionär, der sich 1917 an die Macht putschte und sie mit äußerster Härte verteidigte, der ein Terrorregime errichtete und Zehntausende in den Tod schickte, weil es seiner Sache diente. Sicher, Lenin liebte die Macht nicht um ihrer selbst willen. Aber sind seine Taten weniger verwerflich, weil er stets im festen Glauben handelte, damit den Interessen des Volkes zu dienen und, historisch betrachtet, im Recht zu sein?

Vor diesem Hintergrund war an eine sachliche Auseinandersetzung mit der Person Lenin lange nicht zu denken. Die Betrachtungen schwankten zwischen Verachtung und Vergötterung -- und es fällt auch heute noch schwer, sich diesen Extremen zu entziehen. Hélène Carrère d'Ecausse ist dieses Kunststück gelungen. Gestützt auf ein unbedingtes Fachwissen und auf Dokumente aus den inzwischen geöffneten russischen Archiven, entschlüsselt sie den Mythos Lenin und zeichnet das überzeugende Psychogramm eines Mannes, ohne den die Geschichte zweifellos anders verlaufen wäre. --Stephan Fingerle
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