Essen ist im Werk des großen Provokateurs Bernhard alles andere als ein rein natürlicher Vorgang. Von der Gefräßigkeit ausgehungerter Existenzen über das Feinschmeckertum der Highsociety bis zu den Schrullen alternder Geistesmenschen reicht das Spektrum der kulinarischen Inszenierungen. Nicht selten wird der Esstisch zum Ort von Katastrophen, etwa in der berühmten Brandteigkrapfen-Szene aus Ritter, Dene, Voss. Wie Hilde Haider-Pregler und Birgit Peter nachweisen, hat Thomas Bernhard den Essgewohnheiten seiner Zeitgenossen nicht nur ein literarisches Denkma(h)l gesetzt. Obwohl viele autobiografische Elemente in Bernhards Werk verarbeitet sind, etwa seine traumatischen Kindheitserlebnisse, widerstehen die Autorinnen der Versuchung, einfach die eigenen Ernährungsweisen des Autors zu rekonstruieren. Die beiden Theaterwissenschaftlerinnen spüren vielmehr akribisch den kulinarischen Komponenten im Werk nach und kommen zum bemerkenswerten Schluss: In allen Theaterstücken dienen die Speisen und Getränke nicht bloß als Requisiten, sondern als essenzielle dramaturgische Zutaten. Im Einleitungsessay von Haider-Pregler werden die vielschichtigen Bedeutungen von Essen, Trinken und Kochen in Bernhards Werk dargelegt. Das zweite Hauptstück von Der Mittagesser bildet ein kulinarischer Schauspielführer von Birgit Peter mit kurzen Inhaltsangaben zu allen 18 abendfüllenden Theaterstücken und Beschreibungen der darin vorkommenden Speisen. Da diese im Theatertext nicht immer explizit benannt werden, entsteht Raum für kulinarische Spekulationen, den die Autorin auch fantasievoll nutzt. Abgerundet wird das Buch mit einem kleinen Führer durch prominente kulinarische Orte in Wien und Rezepte der typisch österreichischen Küche -- eine Einladung, die von Bernhard literarisch verewigten Orte und Gerichte selbst sinnlich nachzuempfinden. Um das Phänomen Bernhard ist schon viel, auch unnötige Sekundärliteratur entstanden. Indem sie einen bislang wenig beachteten Aspekt des Werks beleuchten, gelingt den Autorinnen von Der Mittagesser allerdings eine spannende Synthese von theaterwissenschaftlichem und kulinarischem Führer: insgesamt eine unterhaltsame und aufschlussreiche Lektüre, die nicht nur eingefleischten Thomas-Bernhard-Fans, sondern auch allen literarisch interessierten Feinschmeckern Nahrung für Geist und Körper bietet. --Mathis Zojer Quelle:
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