Vielen Jungschriftstellern galt Marcel Proust lange Zeit als beinahe abschreckendes Beispiel, hatte er doch in der Romanform bereits alles Menschenmögliche geleistet. Selbst Walter Benjamin, einer der ersten deutschen Proust-Übersetzer, gestand, dass er "in eine süchtige Abhängigkeit geriete, die ihn an der eigenen Produktion hindere". Wer war dieser zarte, wie ein persischer Prinz anmutende Mann, der, wie ein Ex-Geliebter schilderte, charmant sein konnte bis zur Schmeichelei, zugleich aber Freundschaft für etwas Wertloses und jede Unterhaltung für den "Tod des Geistes" hielt. Stundenlang konnte er gedankenverloren eine Rose anstarren. Erinnerungen zählten für ihn, herbeigeweht durch einen Duft, eine Melodie, gegossen in das geschriebene Wort, das Proust alles bedeutete. Womöglich ein Erbe seiner Mutter Jeanne, dem Fixstern des 1871 geborenen, asthmakranken Marcel. Belesen und humorvoll weckte sie in ihm die Anlage zur scharfen, ironischen Beobachtungsgabe. Der Vater hingegen, ein hoch angesehener Arzt, spielte als "ungehobelter Primitivling" in Prousts Gedankenkosmos eine nur untergeordnete Rolle. Edmund White seziert in der neuen Claassen-Reihe Biographische Passionen die innere Beschaffenheit eines Mannes, der mit seinem Riesenroman Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, vom Salonlöwen zum genauesten Chronisten der ausgehenden Belle Époque wurde. Zeitlebens seine Homosexualität verbergend, dichtete Proust homoerotische Abenteuer im Roman zu Frauengeschichten um. Liebe als "hydraulischer Akt" widerte ihn an und dennoch feierte er sie mit unerhörter Zartheit. Am hoch verehrten Wagner schätzte er, dass dieser "alles ausspuckt, was er über einen Gegenstand weiß, das Nahe- ebenso wie das Weitabliegende, das Leichte und das Schwere". Dies galt auch für Proust. Nichts entging ihm, nichts war ihm gleichgültig. 5.000 Seiten, die die Welt veränderten, eine Kraftanstrengung, die den ohnehin kränklichen Dichter das Leben kostete. Im Alter von nur 51 Jahren starb Proust, ohne den Welterfolg seines Lebenswerkes ausgekostet zu haben. Mit seiner Biografie ist es Edmund White vollauf gelungen, neuerliche Lust auf dieses Leseerlebnis zu wecken. --Ravi Unger Quelle:
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