Die Sozialdemokraten sind endlich dort angekommen, wo sie schon immer sein wollten: in der Mitte der Gesellschaft. Ihre Partei regiert; sie steht an der Spitze des Staates, stellt den Kanzler, den Bundespräsidenten und den Präsidenten des Bundestages. Aber glücklich wirken die Sozialdemokraten dabei nicht. Warum eigentlich nicht? Der Göttinger Politologe Franz Walter glaubt, die Antwort zu kennen. Sie liegt in der nahezu 150-jährigen Geschichte der Sozialdemokratie verborgen, die zugleich auch ein gutes Stück deutscher Sozialgeschichte repräsentiert. Walter muss also weit ausholen, sehr weit sogar, und er tut dies bemerkenswert souverän, ohne sich und den Leser dabei allzu sehr mit historischen Details zu belasten. In großen Schritten durchmisst Walter die sozialdemokratische Geschichte und stößt dabei rasch zum eigentlichen Kern des Problems vor. Um regierungsfähig werden zu können, musste die SPD erst mehrheitsfähig sein; musste aus der traditionsgebundenen Arbeiterpartei eine moderne Volkspartei entstehen, die auch die Wähler außerhalb ihres Milieus ansprach. Sie musste sich dabei von vielem verabschieden, was die Sozialdemokratie über lange Jahrzehnte geprägt hat: von ihren Erinnerungen, Traditionen, Erzählungen, Dogmen, Leidenserfahrungen, von einer großen Sinnperspektive, die über das je Gegenwärtige hinausreichte. Die moderne SPD muss nun ohne all dies leben. Sie ist dadurch zwar freier, weniger ideologisch, nüchterner und infolgedessen regierungsfähig geworden. Gleichzeitig jedoch ist sie auch ärmer geworden: Sie hat ihren unverwechselbaren Charakter eingebüßt, wirkt ein wenig gesichtslos, ist nunmehr eine Partei unter vielen. Das kann der SPD nutzen, es kann aber auch ihre Existenz gefährden. Franz Walter mag mit Die SPD. Vom Proletariat zur Neuen Mitte keine Parteiengeschichte im klassischen Sinne vorgelegt haben -- Fußnoten oder einen Index sucht man beispielsweise vergebens --, aber dem Buch hat das nicht geschadet. Ganz im Gegenteil. Es ist anschaulich, schnörkellos und von der ersten bis zur letzten Seite fesselnd. Kurzum, es ist unbedingt empfehlenswert. Was will man mehr? --Stephan Fingerle Quelle:
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