In Alessandro Bariccos gefeiertem Debütroman war es Seide, die eine tödliche Anziehungskraft ausübte. Diesmal ist es das Meer, dessen feuchte Reize eine ganze Reihe von Charakteren dazu bringt, im abgelegenen Gasthaus Almayer Inn zusammenzukommen. Unter den Gästen befinden sich eine Ehebrecherin, ein exzentrischer Professor und ein Maler mit einer ausgesprochenen Vorliebe für Metaphysik. Bald gesellt sich auch noch die schöne junge Tochter eines örtlichen Aristokraten dazu, die an einer geheimnisvollen Krankheit leidet. Aber im Grunde leiden all diese Charaktere an irgendeiner Form von Krankheit -- psychologischer, existenzieller oder erotischer Natur -- so dass das Almayer Inn zu einer Art Zauberberg mit Meeresblick wird. In seiner italienischen Heimat ist Baricco ein bekannter Opernkritiker. Vielleicht ist das der Grund für seine Liebe zu sprachlichen Arien, die die Handlung von Oceano Mare manchmal überdecken. Wenn Baricco allerdings richtig in Schwung kommt, ist sein kompliziert gearbeiteter Erzählstil ein wahrer Genuss. Sogar das Gasthaus selbst, einsam auf einer Klippe gelegen, bekommt den roten Teppich ausgerollt: "So alleine stand es da, wie vergessen. Es war fast so, als hätte eine ganze Prozession von Gasthäusern, jeglichen Baustils und Alters, irgendwann einmal diesen Ort passiert, auf ihrem Weg die Küste entlang, als eines davon, aus Müdigkeit, sich vom Rest absetzte und, während seine Reisegenossen vorbeimarschierten, sich entschloss, sich auf dieser leichten Erhebung niederzulassen, sich seiner eigenen Schwäche beugend, sich verneigend und sich auf das Ende vorbereitend". In den besten Passagen erinnert Baricco an Italo Calvino -- er demonstriert die gleiche Freude an eleganten Rätseln und rokokohaftem Erzählstil. Hier und da verschwindet Oceano Mare in einer Sackgasse, und die Schwäche des Autors für typographische Tricks hilft dabei wenig. Trotzdem, Bariccos Roman ist ein erfrischender Sprung in "das Meer der Erzählung", wie Christina Stead es nannte -- sowie eine intelligente Entdeckungsreise in die litorale Wahrheit. --Bob Brandeis Quelle:
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