Vergleichsweise spät erst schwang sich Deutschland in den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts doch noch zur Kolonialmacht auf, nachdem in den Jahrzehnten zuvor sämtliche in diese Richtung gehenden Versuche vergeblich geblieben waren. Und umso schneller war der Spuk dann auch schon wieder vorbei: Während die großen Kolonialmächte sich erst in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg zögerlich und nicht selten schmerzvoll von den meisten ihrer überseeischen Besitzungen trennten, war die deutsche "Entkolonialisierung" mit dem Versailler Vertrag schon nach dem Ersten Weltkrieg unfreiwillig mit einem Schlag vollzogen. Was in den Jahrzehnten nach 1919 im eigenen Lande folgte -- in katastrophischer Zuspitzung im Nationalsozialismus -- ließ die deutsche Kolonialgeschichte für die historische Forschung bis in die jüngste Gegenwart vergleichsweise unbedeutend erscheinen. Und so findet man nur vergleichsweise wenig wissenschaftliche Literatur zu diesem gleichwohl äußerst spannenden Thema. Auch populäre Darstellungen der deutschen Kolonialgeschichte sind rar gesät. Der aufschlussreiche Band von Gisela Graichen und Horst Gründer schließt deshalb wirklich eine Lücke. Die Autoren erzählen die Deutsche Kolonialgeschichte samt ihrer Jahrhunderte dauernde Vorgeschichte. Schon im 16. Jahrhundert nämlich waren deutsche Konquistadoren, Kanoniere und Kaufleute im Dienst der Spanier und Portugiesen in deren sehr viel größeren Welt unterwegs. Und sie trugen die Kunde von den zu erobernden Reichtümern auch nach Hause. Ein "Präludium" erlebte die deutsche Kolonialgeschichte gar schon 1669, als es dem hanauischen Hofrat Becher gelang, von der Holländisch-Westindischen Kompanie eine "Kolonie" zu kaufen: Immerhin "ein Gebiet von über 3000 Quadratmeilen an der Nordostküste Südamerikas". Hanau selbst umfasste damals gerade 44 Quadratmeilen. Ein enormer Landgewinn also. Die Autoren schildern auch die in Deutschland sehr kontrovers geführte Diskussion, ob man Kolonien überhaupt "brauche". Und sie führen uns dorthin, wo dann die deutschen Kolonialträume ihre Blüten trieben: Nach Südwestafrika etwa, Neuguinea, Samoa, Kiautschou oder Kamerun. Auch der Umgang mit dem kolonialen Erbe während der Weimarer Republik und die völkisch-kolonialistischen Wahnideen der Nationalsozialisten werden behandelt. Eine wirklich umfassende Kolonialgeschichte also, versehen mit zahlreichen Abbildungen und Karten, einer Auswahlbiographie und einem ausführlichen Register. -- Andreas Vierecke Quelle:
|