Wie aus heiterem Himmel fällt dem Farmer John Gray aus Deer Lick, Missouri, ein Mann vor die Füße. Nein, kein Himmelsbote, sondern ein Franzose, wie sich nach einigen Verständigungsproblemen herausstellt. Noch dazu einer, der von sich behauptet, er wäre ein adeliger Franzose! Mit dem Besuch des ominösen Fremden entfaltet das Leben für den einfachen amerikanischen Landmann und dessen Familie von nun an eine Dynamik, der sich John Gray liebend gerne entzogen hätte, wenn er den Ausgang der Geschichte zu diesem Zeitpunkt schon erfahren hätte. Dass Gray sein liebes Töchterlein Mary natürlich nur an die beste Partie der Gegend vergeben will, fällt ganz klar unter die Rubriken Vaterstolz und Gewinnerwartung. Und dass Herr Gray deshalb französischen Charme ganz und gar nicht amüsant findet, steht auch außerhalb jeder Disussion. Dass darüber hinaus auch eine Erbschaft ansteht, die auf keinen Fall gefährdet werden darf... Eine Bluttat, ein Betrug und ein Bund fürs Leben wurde von Mark Twain als so genannte Blindfold Novelette geschrieben, eine gegen Ende des 19. Jahrhunderts beliebte Gattung, in der ein Schriftsteller den Plot vorgab, um andere Kollegen zu einer Fortsetzung zu reizen. Scheinbar wollte sich damals keiner mit Mark Twain anlegen, und so geschah es, dass er selbst die Geschichte nicht ohne beißenden Sarkasmus zu Ende führte. Vielleicht deshalb das vernichtende Urteil über seinen europäischen Kollegen Jules Verne, mit dem er im letzten Kapitel der Novelette eine pikante literaturkritische Note verlieh? Wie dem auch sei, die Story verschwand im Nachlass des Autors. Und deshalb ist auch das liebenswert aufgemachte Büchlein aus dem Manesse-Verlag nicht nur eine kurzweilige und tiefsinnige Lektüre, es ist auch eine kleine editorische Sensation: Die deutschen Leser haben Gelegenheit, die (übrigens ausgesprochen hervorragende) Erstübersetzung eines nordamerikanischen Autors von Weltrang gleichzeitig mit der Ausgabe in Twains Heimatland in Händen zu halten. Denn bis auf einen Privatdruck von 1946 -- mehr als 36 Jahre nach Twains Tod -- schmökerten Twain-Kenner bisher, wenn überhaupt, diese Geschichte nur in einer Fotokopie jenes Privatdrucks. Fazit: Eine Entdeckung für Twain-Kenner, eine Wiederentdeckung für jeden. --Stefan Wölfel Quelle:
|