Die Hände in den Jacketttaschen vergraben, die Schultern angezogen und den Kopf leicht zur Seite geneigt, so schaut Allen Silvy skeptisch den Betrachter der Aufnahme an. Der Landstreicher stand Modell für eine der 752 Porträtaufnahmen, die Richard Avedon zwischen 1979 und 1984 im Rahmen seines Western Project gemacht hat. Im Auftrag eines örtlichen Museums reiste er durch die dünn besiedelten Regionen des Mittleren Westens von Amerika, um die dort lebende Bevölkerung zu fotografieren. Avedons Porträts faszinieren durch den intensiven Ausdruck der abgelichteten Personen. Alle Bilder entstanden unmittelbar an den Orten, an denen er seine Modelle getroffen hatte, jedoch unter freiem Himmel und vor einem weißen Papierhintergrund, sodass die Umgebung im Bild nicht wahrgenommen wird. In dieser Aufnahmesituation konzentriert sich die Aufmerksamkeit ausschließlich auf die individuelle Geschichte, die den Farmern, Ölfeldarbeitern, Hausfrauen und vielen anderen, die sich vor Avedons Kamera begeben haben, ins Gesicht und auf den Leib geschrieben steht. Der 1923 in New York geborene Richard Avedon studierte zunächst Philosophie und widmete sich nach seinem Abschluss als Autodidakt der Fotografie. 1959 gelang ihm mit der Publikation Observations, einem Band mit Ansichten berühmter Persönlichkeiten, der künstlerische Durchbruch. Als langjähriger Mitarbeiter bei Harper's Bazaar und Vogue erlangt er eine große Popularität als Modefotograf. Daneben beschäftigte er sich auch immer wieder mit politischen und gesellschaftlichen Themen, wie der amerikanischen Friedensbewegung während des Vietnamkrieges oder dem Mauerfall in Berlin. In the American West 1979-1984 zeigt eine Auswahl von 68 Aufnahmen in Schwarz-Weiß. In einem einleitenden Text erläutert Avedon seine Arbeits- und Sichtweise in der Porträtfotografie. Seine Mitarbeiterin Laura Wilson schildert in ihrem Aufsatz die verschiedenen Aufnahmesituationen und sozialen Hintergründe der abgelichteten "lower class people". Eine Beschreibung und Einordnung des Projekts in die Geschichte der modernen Porträtfotografie unternimmt Annelie Lütgens, Kuratorin am Wolfsburger Kunstmuseum. In ihrem Essay stellt sie die Arbeit Avedons unter anderem denen des deutschen Fotokünstlers Thomas Ruff oder der Niederländerin Rineke Dijkstra gegenüber. Nach Richard Avedon ist ein Porträt kein Abbild, sondern eine Meinung, alle Fotografien sind genau, aber keine von ihnen ist die Wahrheit. Dieses fototheoretische Statement zeigt sich in spannender Art und Weise auch in den Aufnahmen von In the American West 1979-1984. --Stefan Meyer Quelle:
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