Kaum jemand ruft sich heute noch ins Gedächtnis, dass der Nobelpreisträger Günter Grass, bevor er mit seinem Romanepos Die Blechtrommel 1959 international Berühmtheit erlangte, als Lyriker begann. Bereits drei Jahre zuvor war als Erfolg versprechendes Gedichtdebüt Die Vorzüge der Windhühner erschienen; auch danach publizierte Grass immer wieder einmal -- oft im Dialog mit seinen Zeichnungen und Radierungen -- einen poetischen Text. Grass selbst hat seine lyrische Produktion in Interviews vordergründig zumeist mit dem Nimbus des Nebensächlichen belegt und von "Gelegenheitsgedichten" gesprochen: Vielleicht ist dies ein Grund, warum er als Dichter nie in den Blickpunkt der literarisch interessierten Öffentlichkeit geriet. Wie falsch dies ist (und wie anders das Wort vom "Gelegenheitsdichter" eigentlich zu interpretieren wäre), zeigt der von Klaus Wagenbach für seine hübsche 77-Gedichte-Reihe klug und abwechslungsreich zusammengestellte Band Wörter auf Abruf, der auf kleinstem Raum das ganze Spektrum des Grass’schen Oeuvres illustriert -- von den surrealen Versuchen der Frühzeit über die souverän mit der Form spielenden Zwischenstücke aus Gleisdreieck und Ausgefragt sowie die (leider und notgedrungen ihrem Kontext enthobenen) lyrischen Passagen der Romane (Die Blechtrommel, Der Butt, Die Rättin) bis hin zur wortkargen Kurz- und Ideendichtung späterer Jahre. Hier wird die ganze auch lyrische Präsenz des Autors deutlich -- wie in jenem ironisch als Nachruf zu Lebzeiten sich gebenden Gedicht "Wegzehrung", das den auch buchtechnisch schönen Band beschließt: "Mit einem Sack Nüsse will ich begraben sein und mit neuesten Zähnen. Wenn es dann kracht, wo ich liege, kann vermutet werden: Er ist das, immer noch er." "Das Gedicht ist immer noch das genaueste Instrument, mich neu kennenzulernen", hat Grass einmal gesagt. Wörter auf Abruf bieten hierzu 77 lohnende Gelegenheiten. --Thomas Köster Quelle:
|