Um es gleich vorwegzunehmen: Die Insel der flüsternden Stimmen ist trotz des klischeehaften deutschen Titels ein ausgesprochen intelligenter, einfühlsamer und hochspannender Thriller. Im Original heißt er Folly, ein Wort, das nicht nur "Torheit, Verrücktheit, Wahnsinn" bedeutet, sondern auch für ein exzentrisches, meist völlig nutzloses Gebäude stehen kann, das zu rein dekorativen Zwecken errichtet wurde. Diese Umschreibung trifft nur teilweise auf das Haus zu, das Rae Newborn mit eigenen Händen bauen möchte -- schließlich beabsichtigt sie, darin zu wohnen. Allerdings hat sie in letzter Zeit nur allzu oft gehört, dass ihr Vorhaben Wahnsinn sei: eine Frau Anfang 50, die sich nach einem längeren Psychatrieaufenthalt auf einer einsamen Insel vor der nordamerikanischen Küste niederlassen möchte, ohne Boot oder Telefon? Was anderen verrückt erscheint, ist für Rae allerdings der erste Schritt auf dem Weg in die Normalität. Die Perspektive des Romans beschränkt sich anfangs auf den engen, verängstigten Blickwinkel von Rae, die hinter jedem knackenden Zweig einen Angreifer vermutet und sich bei einfachsten Arbeiten selbst im Wege steht. Erst allmählich lernt sie die Schönheit ihrer Insel zu genießen und findet wieder Selbstvertrauen. Das Haus nimmt Gestalt an, und schließlich erhält sogar ihre geliebte Enkelin Petra die Erlaubnis, einige Tage bei ihr zu verbringen. Und als sich herausstellt, dass nicht alle Gespenster der Vergangenheit nur ihrer Einbildung entspringen, findet sie die Kraft, sich zur Wehr zu setzen -- und ein wirklich neues Leben zu beginnen. Ein Buch, das einen Selbstfindungsprozess beschreibt und dabei ohne Sentimentalität und erhobenen Zeigefinger auskommt? Fast unmöglich, doch Laurie King ist dieses Kunststück gelungen. Wer ihre Romane um Mary Russell oder Kate Martinelli kennt, weiß: Laurie King schreibt starke Bücher über starke Frauen. Und nicht nur für diese. --Hannes Riffel Quelle:
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