Mangelnde Erfahrung wird ihm niemand unterstellen. Kaum einer seiner Kollegen wird so viele Tage seines Lebens in den SĂ€len der deutschen Strafgerichtsbarkeit zugebracht haben wie er: Rolf Bossi, einer der wohl bekanntesten Strafverteidiger hierzulande und seit gut fĂŒnfzig Jahren im GeschĂ€ft. Aufsehen erregende FĂ€lle verbindet man mit seinem Namen. Doch weder die, noch die illustren Klienten, die er schon vertreten hat, sind Thema dieses Buches, das eine Art Bilanz darstellt. Eine Bilanz, die Soll und Haben des Rechtsstaats in Sachen Strafjustiz resĂŒmiert (wobei sich mancher der von Bossi angeprangerten MissstĂ€nde so Ă€hnlich durchaus auch auf die Zivilgerichtsbarkeit ĂŒbertragen lieĂe). Doch worum geht es? Es geht um den Stand der Richter, um dessen Leistungen und, vor allem, Fehlleistungen, die, so menschlich sie sein mögen, zu sehr in die Schicksale der von ihnen Betroffenen eingreift, als dass man sie ohne weiteres hinnehmen dĂŒrfte. Indes: "GegenĂŒber der staatlichen Gewalt, die so grundsĂ€tzlich in unsere Freiheits- und Persönlichkeitsrechte eingreift, gibt es wenige Möglichkeiten der Reklamation, keine Versicherung und kein angemessenes Schmerzesgeld." Gerade einmal 10,53 Euro EntschĂ€digung erhalte man fĂŒr jeden zu Unrecht in Haft verbrachten Tag. FĂŒr ein halbes Jahr Untersuchungshaft könne man von der so zusammenkommenden Summe gerade mal zwei Wochen Urlaub machen, rechnet der Autor vor. Und den dĂŒrfte man dringend brauchen! Denn von den Unannehmlichkeiten der Haft einmal ganz abgesehen: Ein Strafprozess ist eine ausgesprochen aufreibende Sache -- nicht zuletzt, weil man in dessen Verlauf das Vertrauen in den Rechtsstaat, wenn man es denn vorher hatte, offenbar grĂŒndlich ausgetrieben bekommt und auch als Unschuldiger mit dem Schlimmsten rechnen muss. Jedenfalls dann, wenn der umfĂ€ngliche, stringent und glaubhaft vorgetragene Bericht Bossis tatsĂ€chlich zutrifft (woran zu zweifeln wir keinen Anlass sehen!). In einem Kapitel, das genĂŒgend Stoff fĂŒr ein eigenes Buch enthĂ€lt, zeigt der Autor, weshalb nach 1945 das Unrecht der NS-Justiz groĂteils ungesĂŒhnt bleiben konnte. Dazu zeichnet er unter anderem beispielhafte Nachkriegskarrieren von NS-Juristen nach, die das Rechtssystem der jungen Bundesrepublik unterwandern und so selbst an der Reinwaschung brauner Richter mitwirken konnten. Doch geiĂelt Bossi nicht nur das Unrecht, das ganz offenbar sehr viel hĂ€ufiger gesprochen wird als uns allen lieb sein kann, er lĂ€sst sich in einem Fall dann doch auch zu milder Anerkennung fĂŒr einen "weisen Richter" hinreiĂen, der "in einem kuriosen Fall Gnade vor Recht ergehen lĂ€sst". Und vor allem klagt er nicht ĂŒber die MissstĂ€nde der deutschen Strafjustiz, ohne zugleich mit einem MaĂnahmenkatalog aufzuwarten, mit der er ihnen begegnen will. So fordert er nicht nur ein -- wohl zu spĂ€tes -- Gesetz zur Beseitigung des nationalsozialistischen Unrechts in der Nachkriegsjustiz, sondern auch -- ganz pragmatisch -- die EinfĂŒhrung eines exakten Wortprotokolls im Strafprozess, das fĂŒr eine hinreichende Kontrolle von Tatsachenentscheidungen nötig sei. Und er fordert, dass die Möglichkeiten eingeschrĂ€nkt werden, Beleidigungsklagen gegen Verteidiger wegen ihrer ĂuĂerungen im Prozess zu fĂŒhren⊠Alles in allem ein sehr erhellendes Buch aus der Feder eines altersweisen, aber immer noch streitbaren Juristen. Lesenswert! -- Andreas Vierecke Quelle:
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