Als Ernst Kretschmer 1921 mit Körperbau und Charakter die nach ihm benannte psycho-physische Konstitutionstypologie begründete, arbeitete der Fotograf August Sander (1876–1964) bereits seit zehn Jahren -- zunächst noch ohne das klare Konzept, das er in den Jahren 1925–1927 entwarf -- an einer nach Ständen und Berufsgruppen sortierten fotografischen Typologie der Menschen des 20. Jahrhunderts. Einen ersten Einblick in dieses Vorhaben gewährte der Kölner Lichtbildner dem Publikum freilich erst 1929 mit dem Band Antlitz der Zeit, in dem er eine Auswahl von 60 Porträts veröffentlichte. Das Buch wurde 1936 von den Nationalsozialisten verboten, sämtliche greifbaren Exemplare samt der Druckstöcke beschlagnahmt. Die realistischen Bilder passten nicht zum nationalsozialistischen Ideal vom deutschen Herrenmenschen. Der Meister verlegte sich in der Folge auf Natur- und Architekturaufnahmen, ohne jedoch die Arbeit an seinem foto-anthropologischen Jahrhundertprojekt wirklich aufzugeben. Bis zu seinem Tod fügte er den insgesamt 45 Mappen Bild um Bild hinzu. 1980 veröffentlichte Sanders Sohn Gunther einen ersten Archivbericht über das in sieben Gruppen angelegte lichtbildnerische Kulturwerk. Über 20 Jahre später liegt nun die siebenbändige Rekonstruktion dieses Mammutvorhabens vor, begleitet von einem nicht minder zu lobenden Studienband. Susanne Lange und Gabriele Conrath-Scholl haben die sorgfältige Konzeption dieser Ausgabe mit großem Feingefühl besorgt. Neben ihnen haben neun weitere einschlägig ausgewiesene Kenner der (Fotografie-)Geschichte und des Sander'schen Werks Einzelaspekte der Entstehungsgeschichte dieser außerordentlichen Sammlung beleuchtet. Ein wertvolles Zeitdokument und ein kundiger Führer durch eines der eindrucksvollsten Kapitel der Geschichte der Fotografie in Deutschland. --Andreas Vierecke Quelle:
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