Wahrscheinlich existieren nur wenige Felder der Zeitgeschichte, die so gründlich bearbeitet wurden wie der Überfall der deutschen Wehrmacht auf die Sowjetunion im Juni 1941. Dennoch kursieren um kaum eine Episode des Zweiten Weltkrieges derart abstruse Verschwörungstheorien. Enthüllungen des übergelaufenen sowjetischen Agenten Wladimir Resun alias "Suvorov" über angebliche Geheimvorbereitungen Stalins zu einem revolutionären Krieg in Europa, die Ernst Noltes fragwürdige These von einem legitimen Präventivschlag Hitlers stützen würden, motivierten den israelischen Historiker Gabriel Gorodetsky, sich der Sache noch einmal gründlich anzunehmen. Herausgekommen ist dabei das Buch Die große Täuschung. Hitler, Stalin und das Unternehmen "Barbarossa". Gestützt auf eine Fülle bislang unter Verschluss gehaltener Dokumente aus britischen, bulgarischen, jugoslawischen und ehemals sowjetischen Archiven erteilt der Professor für russische Geschichte Behauptungen, Stalin sei bereits seit 1927 entschlossen gewesen, die kapitalistischen Staaten in einen verheerenden imperialistischen Krieg zu manövrieren, und habe sich zu diesem Zweck Hitler instrumentalisiert, ein für alle Mal eine Absage. Stattdessen führt er in seinem Werk den überzeugenden Nachweis, dass der Kremlchef im Vorfeld des "Großen Vaterländischen Krieges" in Zusammenhang mit der eigenmächtigen Friedensmission von Rudolf Heß, die von Churchill zu einer gegen das verräterische deutsch-sowjetische Paktieren gerichtete Intrige linientreuer Antibolschewisten unter den Nazigrößen stilisiert wurde, als ahnungsloses Opfer komplexer Desinformation einer an Naivität grenzenden Selbsttäuschung erlag. "Hitler weiß sicher nichts davon", soll er am Rande eines Nervenzusammenbruchs gestammelt haben, als ihn die Nachricht von der Invasion erreichte. Und da Hitler in der wohl kalkulierten Absicht, den Überfall als Verteidigungsaktion gegen eine drohende sowjetische Aggression hinzustellen, eine Kriegserklärung vermieden hatte, habe Stalin in der Illusion einer Verschwörung deutscher Offiziere bis zuletzt gezögert, die Rote Armee zum Gegenschlag zu mobilisieren. Gorodetskys Buch über die unheilvolle Dynamik taktischer diplomatischer Ränkespiele ist ein Lehrstück über Machiavellismus in der internationalen Politik, das sich durchaus als Vorlage zu einem Psychothriller eignen würde. --Roland Detsch Quelle:
|