»Zur Winterszeit, als einmal ein tiefer Schnee lag, mußte ein armer Junge hinausgehen und Holz auf seinem Schlitten holen. Wie er es nun zusammengesucht und aufgeladen hatte, wollte er, weil er so erfroren war, noch nicht nach Hause gehen, sondern erst Feuer anmachen und sich ein bißchen wärmen. Da scharrte er den Schnee weg, und wie er so den Erdboden aufräumte, fand er einen kleinen goldenen Schlüssel. Nun glaubte er, wo der Schlüssel wäre, müßte auch das Schloß dazu sein, grub in der Erde und fand ein eisernes Kästchen. >Wenn der Schlüssel nur paßt!< dachte er. >Es sind gewiß kostbare Sachen in dem Kästchen.< Er suchte, aber es war kein Schlüsselloch da, endlich entdeckte er eins, aber so klein, daß man es kaum sehen konnte. Er probierte, und der Schlüssel paßte glücklich. Da drehte er einmal herum, und nun müssen wir warten, bis er vollends aufgeschlossen und den Deckel aufgemacht hat, dann werden wir erfahren, was für wunderbare Sachen in dem Kästchen lagen.« Diese kleine Geschichte bildet den Abschluß der Grimmschen Märchen. Sie läßt den Zuhörer voll ungeduldiger Neugier zurück. Natürlich möchten wir alle wissen, was das Kästchen enthält! Doch niemand kann die Frage endgültig beantworten. Wer immer es versucht, kann nur vermuten, es mögen Schätze dieser und jener Art sein, und er wird hervorholen, was seinem Sinnen, Wünschen und Hoffen naheliegt. Rudolf Geiger aber hat für jedes Märchen einen Schlüssel bereit und gewährt dem Leser Einblick in die Schätze seines Gehaltes. In dem vorliegenden Band läßt er seiner 1982 erschienenen »Märchenkunde« zwölf weitere Interpretationen folgen. Dabei holt er niemals bloß theoretisch aus den Märchen heraus, was sich aufgrund der Symbolkunde ergeben könnte. Er möchte vielmehr stets der lenkenden, übergeordneten Kraft auf die Spur kommen, die sich im Aufbau des Märchens äußert, und es so in seiner Eigendynamik lebendig werden lassen.
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