Die 90er Jahre waren ein Jahrzehnt hitziger Bildungsdebatten. Im Mittelpunkt stand die Frage nach der Praxisnähe der Schul- und Universitätsausbildung: Industrie und Wirtschaft riefen in hysterischer Aufgeregtheit nach stärker berufsbezogenen Lehrplänen, andernfalls erwarte Akademiker künftig unweigerlich die Arbeitslosigkeit. Unsinn!, riefen ihre Gegner nicht minder aufgeregt und prophezeiten für die Zukunft ein Volk weltfremder Fachidioten. In dieser Atmosphäre machte das Wort "Bildungskanon" eine eindrucksvolle publizistische Karriere. Der, darin waren sich beide Seiten einig, müsse unbedingt erhalten bleiben. Da allerdings niemand so genau wußte, was mit Bildungskanon eigentlich gemeint sein könnte -- es gibt noch immer so gut wie keine Literatur zu diesem Thema -- war die Verwirrung komplett. Manfred Fuhrmanns sachkundiges und unterhaltsam geschriebenes Buch schließt die Lücke. Fuhrmann, emeritierter Latinistikprofessor, verfolgt den Begriff des Bildungskanons und seine Geschichte vom ausgehenden Absolutismus bis heute. Bei aller Parteinahme für die Bildungsideale der Vergangenheit kommt er ohne die Larmoyanz und den pädagogischen Missionston aus, die das Thema so häufig begleiten. Er schildert die Entwicklung des Theaters, des Konzertwesens, der Museen, die Renaissance der Antike und der alten Sprachen, die große Zeit der Konversationslexika, die stete Veränderung der Literaturkanons, die Debatten um die Einführung des humanistischen Gymnasiums, den Aufstieg der Geschichtswissenschaften, das Ritual der Bildungsreisen. Dabei wird zweierlei deutlich. Zum einen läßt sich Bildung nicht auf das Lehrangebot von Schulen und Universitäten reduzieren, sondern beruht auf einem ungemein komplizierten Geflecht verschiedenster Institutionen und sozialer Konventionen. Zum anderen ist das Phänomen des Bildungskanons eng an die bürgerliche Gesellschaft gebunden, die als solche heute nicht mehr existiert -- vom Kanon wird also letztlich erst geredet, seit es ihn nicht mehr gibt, die aktuellen Wiederbelebungsmaßnahmen erscheinen also durchaus suspekt. So zeigt Fuhrmann überzeugend, wie wenig fruchtbar der Begriff für pädagogische Debatten ist, wie interessant dagegen, wenn es darum geht, die europäische Kultur in ihrer ganzen Breite und Vielfalt zu verstehen. --Christian Demand Quelle:
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